14.10.2012, 09.30 Uhr | Redaktion | Artikel drucken | Instapaper | Kommentare
TiC-Theater: Musical „Anatevka“ zeigt „Ecken und Kanten“
Es ist wieder einmal Musical-Zeit im TiC-Theater: „Anatevka“ steht auf dem Programm – und wer das Stück nach dem Buch von Scholem Ajejchem kennt, der weiß: Hier wird es ernster als bei manch anderem Musical. Aber das Schöne ist: Am Ende verlässt man das TiC-Atelier begeistert und keine Spur deprimiert. Denn Ralf Buddes neueste Inszenierung ist eine runde Sache.
Die Geschichte von „Anatevka“ erzählt vom Leben in dem jüdisch-russischen Dorf dieses Namens, wo sich um Milchmann Tevje (wunderbar: Hans-Willi Lukas) allerlei abspielt: von verbotener Liebe bis zum Verstoßen der eigenen Tochter. Nicht genug damit, die Staatsmacht zur Zeit des Zaren drangsaliert die Juden – und am Ende müssen alle fliehen. Ziemlich viele „Ecken und Kanten“ für ein Musical?
Dass es trotz allem „rund wird“ im TiC, das hat sicher viel damit zu tun, dass alles zur Geschichte und ihrer Stimmung passt. Schon angefangen beim Bühnenbild von Kerstin Faber: Zu sehen ist ein Dorf-Szenario aus Bretterwänden, das bis in den Zuschauerraum hineinreicht – und nicht nur die Bretter sind braun und nicht ganz gerade, sondern auch der Herd, die Tür, der Fensterrahmen. Trist gefärbt, so scheints, sind sogar die Kostüme. Das bedrückt aber gar nicht, sondern trägt bei zur Atmosphäre.
Alles passt bei der Inszenierung
Wie es sich gehört für ein Musical: Besonders ist es natürlich die Musik, die „den Bogen schlägt“. Wunderschön erklingen unter der musikalischen Leitung von Stefan Hüfner all die Lieder von Jerry Bock – viel Moll und mindestens ebenso viel Melodie. Und das TiC-Ensemble bringt sie wirklich toll zu Gehör: Besonders die Chor-Titel sind rührend und mitreißend – ob beim schwungvollen „Masel tov“ nach dem alten jiddischen Gruß, oder gleich zu Beginn beim berühmten Lied „Tradition“. Enorm lebendig in Dana Großmanns klarer Choreographie, besingt so das ganze Dorf dieses eherne Prinzip in Anatevka: Regeln müssen sein – am besten alte. Auch wenn es ganz so „ehern“ dann ja doch nicht bleibt – zu Tevjes Leidwesen.
Das Familienoberhaupt ist der nächste Garant für „Ecken“: Hans-Willi Lukas ist ein echter Glücksfall. In seiner ganzen Mimik und Haltung wirkt sein Tevje so gar nicht überlegen, sondern eher hilflos, wenn er resignierend die Arme hebt – und das muss er oft: Sein Gott will nicht so wie er. Und seine Töchter: Die wollen erst recht nicht. Traditionell soll es zugehen. Nach getaner Arbeit der Dorfkupplerin – als Heiratsvermittlerin Jente ist Isabelle Rotter, die geradezu übersprudelt vor „Informiertheit“, ein besonderes Vergnügen. Mit entscheiden soll eigentlich nur seine Frau Golde; Ilka Schäfer spielt sie resolut als die klar Entschlossenere von beiden, mit gehöriger Skepsis gegenüber ihrem wankelmütigen Tevje, als es dann ja doch alles so nicht klappt mit der Tradition.
Die Töchter sind im TiC eine Klasse für sich. Zeitel, die Älteste, wirkt mit Mirca Szigat erst klug und vernünftig, doch wenn es um die Liebe geht, entwickelt sie ungeahnt quirlige Seiten und tänzelt quer über die Bühne. Ihr Herz gehört dem armen Schneider Mottel. Henning Flüsloh spielt ihn schön unbeholfen. Herrlich verdattert wird Zeitels Miene, als ihr Vater ihr statt dessen freudig mitteilt: „Ich habe dich mit Lazar Wolf verheiratet!“ Der wird übrigens gespielt von Wolfgang Sprotte und ist der deutlich ältere Dorfmetzger, der bei einem witzigen Gelage mit Tevje seine Chance wittert. Sophie Schwerter als Tochter Hodel durchkreuzt dann die elterlichen Heiratspläne aus anderen Gründen: Andreas Wirth als ihr Geliebter Perchik ist nicht nur wandernder Lehrer, sondern auch politischer Rebell – und sofort bereit, gegen die Mächtigen in den Kampf zu ziehen. Auch Hodel lässt sich nicht beirren in ihrer Liebe und verlässt für ihren Mann das Dorf.
Töchter mit eigenem Willen
Spätestens hier wird es traurig im TiC-Atelier. Aber: Eingestimmt ist das Premierenpublikum, das am Ende wie zur Bestätigung lange applaudiert, ja längst dafür. Auch mit der Musik, die beim Titellied „Anatevka“ noch einmal ganz tief hineingreift in die Melancholie-Kiste. Das kann dann nur noch Tevjes Tochter Chava „toppen“: Jennifer Pahlke gibt die Geliebte des jungen Fedja, eines Nichtjuden, mit ihrem herzzerreißenden Schicksal. Als sie nämlich halsstarrig zu dem Fremden steht (Robert Flanze trifft vom ersten Auftritt an verstörend nur auf stumme Distanz im Dorf): Da verstößt ihr Vater sie.
„Einerseits – andererseits“: Tevje, der Milchmann, ist bekannt als Inbegriff des „Bauernschlauen“, der am Ende ja doch das Herz entscheiden lässt. Und so ähnlich ist auch das ganze „Anatevka“ im TiC, von Spiel bis Bühne: Nicht schwarz-weiß, sondern irgendwo dazwischen.
Karten für das neue Musical im TiC-Atelier Unterkirchen unter der Regie von Ralf Budde gibt es natürlich an der TiC-Hotline unter der bekannten Telefonnummer 0202-47 22 11 oder aber online unter www.tic-theater.de.
Martin Hagemeyer