18.11.2016, 16.18 Uhr   |   Meinhard Koke   |   Artikel drucken   |   Instapaper   |   Kommentare

Die Zuschauer als Richter: Erfolgsstück „Terror“ im TiC-Theater

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Starke Darsteller in einer starken Inszenierung eines starken Stückes: die Mitwirkenden von „Terror“ im TiC-Theater. -Foto: Martin Mazur

Mit seinem neuesten Stück wird das TiC-Theater zum Gerichtssaal – und die Zuschauer zu Schöffen: Am 18. November 2016 hatte Ferdinand von Schirachs „Terror“ Premiere an der Borner Straße. Warum das Justizdrama von Deutschland bis Venezuela und Japan gefeiert wird, war spätestens zur Pause klar: Wohl kaum je zuvor diskutierte das TiC-Publikum eine Aufführung derart intensiv – das von Ralf Budde inszenierte Stück wirft eine hoch aktuelle Frage auf, welche die Zuschauer hin- und hergerissen sein lässt: Darf das Leben von wenigen Menschen geopfert werden, um damit das von vielen zu retten?

Szenario des Schirach-Dramas ist ein Terrorakt: Mutmaßlich islamistische Geiselnehmer haben ein Passagierflugzeug mit 164 Menschen gekapert und wollen es auf die Allianz-Arena stürzen, in der gerade 70.000 Zuschauer ein Länderspiel verfolgen. Bundeswehr-Kampfflugzeuge steigen auf. Vergeblich versuchen sie die Terroristen zur Aufgabe zu bringen. Luftwaffen-Major Lars Koch bittet um die Genehmigung zum Abschuss, erhält sie jedoch nicht. Als die gekaperte Maschine nur noch 25 Kilometer vom Stadion entfernt ist, schießt der Kampfjet-Pilot das Flugzeug dennoch ab.

Nach TV-Ereignis darf nun das TiC-Publikum „Richter spielen“

Der Major kommt vor Gericht. Ist er ein Mörder oder ein Held? Das ist die Frage: Nachdem das Schirach-Stück Mitte Oktober zum TV-Ereignis in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde, darf sich nun das Publikum im TiC damit auseinandersetzen. Die Rechtslage zu „Terror“ ist eindeutig: Major Koch hat eigenmächtig gehandelt – gegen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Das hatte 2006 das Luftsicherheitsgesetz, welches es erlaubte, entführte Flugzeuge im äußersten Notfall abzuschießen, einkassiert. Die Karlsruher Richter befanden die Abschussermächtigung als unvereinbar mit dem Grundgesetz, weil es die Entführten im Flugzeug als bloße Objekte behandele.

Auch wer danach geboren wurde, weiß vom 11. September 2001: Al Kaida-Terroristen kaperten vier Passagierflugzeuge und stürzten zwei davon ins World Trade Center. Die Zahl der Opfer von „9/11“ wird auf 3.000 Menschen geschätzt – eine zuvor unvorstellbare Dimension des Terrors. Der seitdem aber weltweit fast schon „Normalität“ geworden ist: So stieg die TiC-Premiere von „Terror“ einen Tag vor dem Jahrestag der Anschläge von Paris. Wie setzt sich eine zivilisierte Gesellschaft mit dieser Spirale auseinander? Lässt sie es zu, dass Terroristen mit ihren Anschlägen auch die Vorstellungen von Menschenwürde, einem freiheitlichen Miteinander schleifen, indem wir Gesetze verschärfen, persönliche Freiheiten einschränken und es zulassen, dass wenige geopfert werden dürfen, um viele zu retten? Wie sieht dies das Volk, sprich der TiC-Zuschauer, dem Autor Ferdinand von Schirach die Rechtsprechung überträgt?

Zurücklehnen ist nicht: „Terror“ packt die Zuschauer

Als das Gericht im nüchternen, holzgetäftelten TiC-Saal (Bühne: Jan Bauerdick) zusammentritt und der Richter (Michael Baute) die Verhandlung eröffnet, verfolgen die Zuschauer-Schöffen aufmerksam, wie der angeklagte Major Lars Koch (Lars Grube) seine Abschuss-Entscheidung erklärt, was sein Vorgesetzter Lauterbach (Philipp Flanze) und die Nebenklägerin Franziska Meiser (Mirca Szigat), Witwe eines der Opfer, aussagen und wie Staatsanwältin Nelson (Beate Rüter) ihre Anklage formuliert sowie Verteidiger Biegler (Christian Schulz) seinen Antrag auf Freispruch. Sich entspannt unterhalten zu lassen, das geht diesmal nicht im TiC. Unschuldig oder schuldig? Bei der „Be-Urteilung“ dieser Frage nimmt „Terror“ die Zuschauer in die Pflicht.

Mit diesem Kunstgriff gelingt es Autor von Schirach, das Publikum für eine differenzierte Urteilsfindung zu gewinnen. Die meisten Zuschauer dürften mit einem „Bauch-Urteil“ in die TiC-Premiere gegangen sein – nach Hause ging’s ohne „Vor-Urteil“. Das gelingt im TiC, weil Regisseur Ralf Budde die Figuren des Gerichtsdramas glaubwürdig zeichnet. Ebenso wie das schlichte Bühnenbild den Blick aufs Wesentliche nicht verstellt, lässt Budde die Charaktere fast würdevoll zurückhaltend agieren. Es fließen zwar auch Tränen. Die Aufarbeitung der fatalen Abschuss-Entscheidung ertrinkt aber nicht in Emotionen, sie erfolgt akribisch, beinahe nüchtern.

Indem die Emotionen ausgeblendet werden, schafft es „Terror“, den Fokus auf das Wesentliche zu lenken: Die Zuschauer setzen sich aber nicht nur mit den juristischen, sondern auch den gesellschaftlichen, ja sogar philosophischen Fragen des Falls auseinander – wer hätte das wohl sonst getan… Behutsam-einfühlsam spielt Michael Baute den Richter, eindrucksvoll arbeitet Lars Grube die Dramatik am Steuerknüppel des Kampfjets heraus – hier der auf Gehorsam gedrillte Elite-Soldat, dort der Mensch, der zum Befehlsverweigerer wird. Ergreifend macht Mirca Szigat als Witwe klar, dass die Opfer eben keine Objekte sind, sondern hinter der Zahl „164“ Einzelschicksale stecken.

TiC-Publikum: Knapper Freispruch für Major Koch

Beate Rüter nutzt die Chance, die sie qua ihrer Rolle als Staatsanwältin eigentlich nicht hat. „Umso besser die Schauspieler sind, umso mehr treten sie hinter ihre Rolle zurück“, hat Autor von Schirach zu seinem Stück gesagt – Beate Rüter erfüllt diesen Anspruch: Brillant gelingt es ihr deutlich zu machen, dass es nicht (allein) um rechtliche Fragen, sondern auch um das gesellschaftliche Miteinander geht: Darf der Staat seine Bürger zum Abschuss freigeben? Verteidiger Biegler hält dagegen: Er fordert die Staatsanwältin auf, von ihrem hohen Juristen-Ross am bequemen Schreibtisch herunterzukommen und sich den Realitäten zu stellen: „Wir sind im Krieg.“

Aber wie entscheidet das TiC-Publikum? Es schreitet mit zuvor ausgegebenen Karten zur Abstimmung, nach Auszählung wird das „TiC-Urteil“ verkündet. Mit 32 zu 24 Stimmen votieren die Premierenzuschauer für „nicht schuldig“ – so wie ganz überwiegend bei den Aufführungen weltweit und im Fernsehen. Nur in Japan erhielt Major Koch bislang keinen Freispruch. Es brandet aber nach dem Urteil kein Applaus auf, keiner der 32 Zuschauer fühlt sich „im Recht“, auch bei Major Koch oder seinem Verteidiger ist keine Erleichterung zu spüren – ob Zuschauer oder Akteure, ob für Freispruch oder dagegen, alle scheinen vereint in Betroffenheit.

von Schirach: „Ich wollte, dass wir darüber reden, wie wir leben wollen…

Und vielleicht vereint in der Auffassung: Eine Gesellschaft, die es sich nicht leicht macht, solche dramatischen Fragen zu beantworten, indem sie in jedem Einzelfall intensiv hinterfragt, bleibt menschlich, bleibt eine moralische Instanz. „Ich wollte, dass wir darüber reden, wie wir leben wollen“, hat Ferdinand von Schirach auch gesagt – das ist mit der TiC-Inszenierung eindrucksvoll gelungen. Zurecht gab es daher lang anhaltenden Applaus – „Terror“ ist ein starkes Stück und Ralf Budde und seine Darsteller liefern eine starke Leistung ab! Karten für „Terror“ gibt es im Internet unter www.tic-theater.de, im Theaterbüro an der Hauptstraße oder über die TiC-Hotline unter 0202 47 22 11 – gehen Sie rein!