22.03.2019, 20.09 Uhr | Meinhard Koke | Artikel drucken | Instapaper | Kommentare
Vor 100 Jahren: Als die Briten an der Kohlfurther Brücke standen
Laut neuem Brexit-Fahrplan soll es nun frühestens am 12. April so weit sein: Für diesen Termin ist seit gestern Abend der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU neu terminiert. Ob das klappt, der Brexit einmal mehr verschoben oder es vielleicht doch ein zweites Referendum geben wird, darum wird weiterhin in London und Brüssel gerungen. Keine Frage ist: Der Austritt Großbritanniens aus der Gemeinschaft bedeutete einen schweren Dämpfer für die Errungenschaft „Europäische Union“.
Wie bedauerlich das wäre, macht ein Blick einhundert Jahre zurück in die Cronenberger Geschichte auf tragische Weise deutlich. 1919 waren die Briten nämlich nicht Freund, sondern Feind und lagen an der Kohlfurther Brücke: Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1918 hatten sie das Rheinland besetzt und rund um die großen Städte Brückenköpfe sowie daran anschließend neutrale Zonen als Puffer eingerichtet – die Kohlfurther Brücke war ein Grenzpunkt zum sogenannten Kölner Brückenkopf.
Britische Soldaten hatten Posten bezogen und kontrollierten alle, die die Brücke überqueren wollten – ob mit der Straßenbahn oder zu Fuß. Im Frühjahr 1919 kam es zum traurigen Höhepunkt der englischen Besatzung: Ein junger Cronenberger wurde bei dem Versuch, die Wupper wenige Meter flussaufwärts zu durchqueren, von britischen Soldaten erschossen: Carl Lohe starb mit gerade einmal 28 Jahren.
„Sorgen unberechtigt“: Zeitungen beruhigten
Ur-Großneffe Stefan Alker und der Kohlfurther Wolfgang Wandel haben in ihren Archiven einiges zu dem dramatischen Zwischenfall vor einhundert Jahren gefunden. Wolfgang Wandels Familie lebt seit Generationen in einem stattlichen Haus auf der Solinger Wupper-Seite mit Blick auf die Kohlfurther Brücke. Schon insofern ist der 66-Jährige mit der Brücke verbunden. Nicht zuletzt weil er nach der plötzlichen Sperrung der damals maroden Brücke im Jahre 2005 eine Bürgerinitiative mitbegründete, die schließlich den historisierenden Neubau erzwang, ist Wolfgang Wandel auch zu einem Experten zur Historie der Kohlfurther Brücke geworden.
So enthält das Wandelsche Familien-Archiv auch historische Bilder und Zeitungsausschnitte aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Wupper-Querung nicht nur die Grenze zwischen Solingen und der damals selbstständigen Stadt Cronenberg überbrückte, sondern auch einen Übergang von der britischen Besatzungszone ins unbesetzte Deutsche Reich war. Der Brückenkopf Köln umfasste auch Solingen und reichte bis an den Kohlfurther Wupper-Strand. Sorgen seien „überflüssig und unberechtigt“, schrieb damals die „Remscheider Zeitung“ zur bevorstehenden „feindlichen Besetzung“ – „ein Anlaß zur Beunruhigung besteht nicht“, versicherte die Zeitung ihren Lesern. „Die Bevölkerung handelt richtig, wenn sie ihren Wohnsitz nicht verlässt und auch sonst keine unüberlegten Maßnahmen trifft, um eingebildeten Gefahren zu begegnen“, beruhigte ein Appell die Bewohner der besetzten Gebiete.
Eisenbahnverbindungen gekappt, Kneipen und Kinos reserviert
Auch wenn das zuvor anders vorgesehen war, wurde der Eisenbahnverkehr zwischen dem Besatzungsbrückenkopf Köln und dem restlichen Deutschland ab 1. Januar 1919 unterbunden. Im Rahmen der Verkehrssperre verkehrten Züge nur noch bis zum Brückenkopf, Fahrkarten ins besetzte Gebiet wurden nicht mehr ausgegeben und Gepäck und Frachtgut nicht mehr abgefertigt. Nur auf einzelnen Strecken verkehrten noch Züge. Diese durften aber nur mit Erlaubnisschein benutzt werden.
In der damaligen Stadt Solingen galt seit dem 27. Dezember 1918 eine nächtliche Ausgangssperre: Von 21 bis 5 Uhr morgens (englischer Zeit) war jeglicher Aufenthalt auf der Straße verboten. Laut der „Verhaltensmaßregeln gegenüber der britischen Besatzung für die Stadt Wald“ wurden Gasthöfe und Restaurants sowie ein Kino für englische Truppen reserviert. Wurden „Zivilpersonen von englischen Offizieren angesprochen, so haben erstere diese durch Hutabnehmen zu grüßen“, hieß es auch in den Verhaltensmaßregeln.
War das Kaffeesäckchen für die Geburtsfeier?
Vor dem Hintergrund dieses Besatzungsregimes ist vielleicht erklärbar, warum es im Mai 1919 zu einem Todesfall in der Kohlfurth kommen konnte. Denn: Wie Stefan Alker, ein Ur-Großneffe des Erschossenen, weiß, wollte Carl Lohe ein Säckchen Kaffee von der besetzten Zone auf die Cronenberger Wupper-Seite schmuggeln – „meine Ur-Oma hat immer davon erzählt“, berichtet Stefan Alker. Johanne Stoll, geborene Lohe, die Schwester des Carl Lohe, wurde stolze 96 Jahre alt und starb 1984. War womöglich der Geburtstag von Carl Lohes Bruders Alfred der Anlass für die gefährliche Schmuggel-Aktion durch die Wupper? Dem Familien-Archiv der Alkers ist zu entnehmen, dass Alfred Lohe am 1. Mai 1919, dem Tag des dramatischen Ereignisses, 22 Jahre alt wurde. Wollten die beiden Lohe-Brüder also den Geburtstags-Kaffee „organisieren“?
Ein Original-Zeitungsartikel vom 3. Mai 1919, den Stefan Alker zu dem „erschütternden Vorgang“ besitzt, berichtet Näheres. So wollte Carl Lohe etwa 450 Meter oberhalb der Kohlfurther Brücke, also in Höhe von Am Jacobsberg, wo die Familie seinerzeit zu Hause war, mit dem Kaffeesäckchen durch die Wupper. Tragisch war nicht nur, dass der 28-Jährige im Beisein und am Geburtstag seines Bruders von zwei britischen Brücken-Posten erschossen wurde. Laut des Berichtes stand Carl Lohe auch kurz vor der Heirat.
Lebensgefährlich: Verletztem konnte nicht geholfen werden
„Hilfe konnte ihm nicht gebracht werden, da jeder Versuch – der das Betreten des verbotenen anderen Ufers nach sich ziehen konnte – wegen der leichtfertigen Schießerei der Engländer lebensgefährlich werden konnte.“ Erst einen Tag später, so berichtet die Zeitung weiter, wurde die Leiche flussabwärts aus der Wupper geborgen. Wie sehr Engländer und Deutsche vor einhundert Jahren verfeindet waren, ist zwischen den weiteren Zeilen des Artikels herauszulesen: „Mit ihrer Schreckenstat noch nicht zufrieden, holten die Engländer den untröstlichen Bruder des Erschossenen (…) vom neutralen Wupperufer weg und führten ihn ihrem Offizier vor“, steht in der Meldung: „Unter starker Bedeckung wurde der Bedauernswerte nach Solingen gebracht und dort festgehalten“. Alfred Lohe wurde schließlich wegen „Hilfeleistung beim Schmuggel“ zu 200 Mark Strafe verurteilt – seinen Geburtstag verbrachte er in Gewahrsam.
Die tragischen Ereignisse hätten „große Erregung in die Bevölkerung gebracht“, berichtet die Zeitung weiter, „das Mitgefühl mit der heimgesuchten Familie ist allgemein“. Ob sich wegen des dramatischen Vorfalls eine Bürgerwehr gebildet hatte? – Als die Kohlfurther Wehr in der Nacht zum 2. Mai 1919 patroullierte, seien jedenfalls von englischer Seite wieder Schüsse gefallen, heißt es zum Schluss der Meldung. Auch die Todesanzeige für den „infolge eines „Unglücksfalles im blühenden Alter von 28 Jahren“ aus dem Leben gerissenen Carl Lohe besitzt Stefan Alker. Darin betrauert auch die Braut Aenne Eickenberg ihren „innigstgeliebten unvergesslichen Bräutigam“. Die Beerdigung Carl Lohes fand am 5. Mai 1919 um 15 Uhr statt – „mit Frauenbegleitung“, wie die Anzeige vermerkt.
Nach Kneipen-Tour nicht nach Solingen zurückgelassen
Wolfgang Wandel und sein Vater Karl-Heinz erinnern sich übrigens auch an eine Anekdote des Großvaters beziehungsweise Vaters: Der sei nach einer abendlichen Tour durch die Kohlfurther Kneipenwelt von den Engländern nicht mehr zurück auf die heimische Solinger Wupper-Seite gelassen worden und dann aber flussabwärts heimlich durch die Wupper gewatet – „wenn ich jetzt lese, was damals mit Carl Lohe passiert ist, weiß ich erst, wie gefährlich das war…“