12.05.2020, 19.19 Uhr | Meinhard Koke | Artikel drucken | Instapaper | Kommentare
75 Jahre Kriegsende: Zwei Cronenberger Zeitzeugen erinnern sich
Am 8. Mai 1945 war es mit der Nazi-Tyrannei in Deutschland vorbei / In Cronenberg waren die Amerikaner indes schon Mitte April einmarschiert / Eva Loeken und Manfred Stader haben das Kriegsende im „Dorf“ miterlebt.
Am 8. Mai vor 75 Jahren war es so weit: Der Zweite Weltkrieg in Deutschland war zu Ende – und damit auch die Tyrannei der Nazi-Diktatur. In Cronenberg indes waren die Amerikaner bereits Mitte April einmarschiert. In das „Dorf“, das vor allem im Juni 1943 schwer von Bomben getroffen worden war, zog damit Frieden ein. Und für fast drei Wochen durfte man sich sogar wieder selbstständig fühlen: In den Wirren setzten die Amerikaner Alfred Hamm am 16. April 1945 als Bürgermeister Cronenbergs ein. Am 4. Mai fiel der US-Militärbehörde dann auf, dass Cronenberg ja bereits im Zuge der Städte-Vereinigung von 1929 in der Stadt Wuppertal „aufgegangen“ war – und Alfred Hamm wurde sodann wieder abgesetzt…!
Von der größten Krise in Deutschland seit 1945 ist vielfach die Rede, wenn es um die Corona-Pandemie geht. „Ja, das ist so“, sagt mit Manfred Stader jemand, der es wissen muss: Der 84-Jährige hat den Zusammenbruch Deutschlands miterlebt. Knapp zehn Jahre war der gebürtige Sudberger alt, als amerikanische Soldaten am 14. April 1945 in Cronenberg einrückten. Für Manfred Stader bedeutete das Kriegsende, dass er eine wichtige Verantwortung abgeben konnte: Seit dem Beginn der Bombenangriffe, 1941, so erinnert er sich, hatte er auf das „Köfferken“ aufzupassen: Darin befanden sich alle wichtigen Unterlagen der Familie; wenn die Sirenen heulten, musste der junge Manfred sich das „Köfferken“ schnappen und ab ging’s damit in den Keller, wo man bis zur Entwarnung Schutz suchte: „Lange habe ich den Koffer noch aufgehoben – bis er schließlich zerfiel.“
Um den Bombenkrater herum Fußball gespielt
Manfred Stader hat seine Erinnerungen an die Kinderzeit und das Kriegsende aufgeschrieben. Im November 1944, so steht hier zu lesen, wurde beim Angriff auf Solingen auch Sudberg schwer getroffen: Am damaligen Kreuzweg an der heutigen Endhaltestelle Sudberg lagen die städtischen Häuser in Schutt und Asche. Auch den Sudberger Sportplatz hatte eine Bombe getroffen; also spielten die Fußballer einfach um den Krater herum. Das Heranrücken der Amerikaner sah Manfred Stader schon von weitem: Von Müngsten aus rollten sie über die Solinger Straße in Remscheid heran und den Wald hinauf – die deutschen Panzersperren wurden einfach überrollt.
Einige Sudberger seien gerade dabei gewesen, ein Pferd zu schlachten; als einer der Männer voller Pferdeblut auf die Amerikaner zutrat, wurde er erschossen: „Warum, weiß ich nicht genau. Er soll dem Amerikaner in das Gewehr gegriffen haben“, erinnert sich Manfred Stader. Schnell lief er in die heimiche Wohnung, die im Haus eines Sudberger Fabrikbesitzers war. Flugs hängte er dort das Hitler-Bild des Hausbesitzers ab und versteckte es. Den Vermieter erwischte es trotzdem: Er wurde auf der Straße vor dem Haus ins Bein geschossen. Zwei Tage später brachten ihn der junge Manfred und ein Nachbar per Pferdewagen ins Lazarett in der heutigen Schule Berghauser Straße – zu spät, der Hausbesitzer starb dort.
Mit zehn Jahren das erste Stück Schokolade gegessen
Manfred Staders erste persönliche Begegnung mit einem Amerikaner war positiv und beeindruckend: Es war ein dunkelhäutiger Soldat, der ihm ein Stück Schokolade schenkte – ebenso wie er zuvor noch nie einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe gesehen hatte, aß Manfred nun mit zehn Jahren sein erstes Stück Schokolade. In den folgenden Wochen hätten die US-Soldaten häufig in den Häusertrümmern am Kreuzweg am Lagerfeuer gesessen, weiß Manfred Stader noch. Mit ihnen trieben Manfred und seine Kumpels nun einen regen „Handel“. Sie brachten Waffen, welche deutsche Soldaten im Wald vergraben hatten, zu dem US-Posten – als Belohnung gab es Kaffeebohnen. Auch die weggeworfenen Zigarettenstummel der Amerikaner waren begehrt: Manfred und seine Freunde rauchten sie entweder heimlich selbst oder der Vater bekam sie – um mit den Tabakresten seine Pfeife zu stopfen.
Kein Hungern dank Garten: „Das Leben ging weiter…“
Trotz aller Not, Zerstörung und der Entbehrungen, die Zeit nach der Stunde Null hat Manfred Stader als nicht so schlimm in Erinnerung: Das erste halbe Jahr war keine Schule; er kroch mit seinen Kameraden durch die Keller des zerbombten Cronenberger Rathauses und dank des Gartens daheim und der Sudberger Tauschwirtschaft wurde er (fast) immer satt – „das Leben ging weiter“, blickt Manfred Stader auf die Krisenzeit vor 75 Jahren zurück.
Eva Loeken: Ein Pfund Bohnenkaffee für Nazi-Fahne
Eva Loeken wohnte mit ihren Eltern am Hofe als die Amerikaner ins Dorf einrückten. Nachdem das Schießen aufgehört hatte, wagte sich der Vater, welcher als Erst-Weltkriegs-Teilnehmer nur zum Volkssturm einberufen worden war, ins Dorf. Zurück kehrte er mit der Nachricht: Das sei mal wieder typisch für die Amerikaner – auf den ersten Panzern hätten nur farbige Soldaten gesessen: „Die müssen wieder die Kohlen aus dem Feuer holen“, berichtete er.
Die deutschen Soldaten, welche sich in den Tagen zuvor auf Pferdewagen zum Nöllenhammer geflüchtet hatten, sah die damals Zwölfjährige nun erneut an ihrem Wohnhaus vorbeiziehen. Von den Amerikanern wurden sie zu einer Wiese gebracht, auf der heute das Geschäftshaus mit dem „Haus der Tänze“ zu finden ist: Die Wiese wurde mit Stacheldraht eingezäunt zum Sammellager: „Dann lagen die da bei Wind und Regen im Schlamm“, weiß Eva Loeken noch: „Die hatten nichts.“
„Ja, klar war ich froh, dass der Krieg zu Ende war“; was blieb, waren die Sorgen um die beiden vermissten Brüder und was am nächsten Tag auf den Tisch kommen könnte. Auf kuriose Weise ergatterte die Mutter ein Pfund Kaffee: Sie war bereits dabei, eine Nazi-Fahne in ein rotes Kleid für die junge Eva umzunähen, als sie hörte, dass Nazi-Devotionalien bei den Amerikanern beliebtes Tauschgut seien. Als sie die Fahne wieder zusammennähte, betrat eine Cousine die Stube: „Was machst du den da?“, fragte sie entgeistert die Mutter: „Hitler ist wieder auferstanden“, antwortete die – „ja, Spaß hatten wir auch“, lacht Eva Loeken noch immer über die Fahnen-Anekdote…
Einfach abgeschöpft: Wibbelbohnen mit Käfer-Einlage
Nur spaßig war das Kriegsende keineswegs für Eva Loeken: Zum Glück musste die Familie, die seinerzeit ein Samen-Geschäft betrieb, zwar keinen Hunger leiden, weil sie Freunde mit einem Bauernhof in Leichlingen hatten. Obst, Gemüse & Co. mussten aber zu Fuß herangeschafft werden. Besonders als die Engländer den Staffelstab übernommen hatten: Denn die „Tommies“, erinnert sich Eva Loeken, beschlagnahmten rigoros Hamsterer-Waren – also ging es stundenlang zu Fuß nach Leichlingen und schwer bepackt wieder zurück. „Ich habe ganz schön gemotzt“, erzählt Eva Loeken – „sei froh, dass wir was haben“, gab ihr die Mutter zur Antwort.
Unvergesslich ist der 87-Jährigen ein Zentner „Wibbelbohnen“ geblieben, den der Vater von einem Kunden organisiert hatte. Die waren zwar von irgendwelchen Käfern durchlöchert, aber nach dem Kochen wurden die oben schwimmenden Tierchen einfach abgeschöpft – „uns haben die Bohnen trotzdem geschmeckt“, sagt Eva Loeken – und außerdem habe man damit so einiges eintauschen können… In Erinnerung geblieben ist der Dörper Zeitzeugin auch, dass die Soldaten in den Cronenberger Fabrikanten-Villen Quartier nahmen, die Mutter extra zu Bekannten in den Spreewald reiste, um dort einen Puter zu Weihnachten zu „organisieren“ oder auch, dass auf ihrer Schlittenwiese in Schwabhausen Ponys zusammengetrieben wurden – um sie dann zu schlachten…
Corona-Krise: „So schnell werde ich nicht mehr hysterisch…“
Nicht vergessen hat Eva Loeken auch, dass der Vater zunächst stets eine Axt neben der Wohnungstür stehen hatte – aus Angst vor Übergriffen der Zwangsarbeiter in den Baracken der damaligen Firma Bauer. Und nicht vergessen hat sie auch die Nachkriegs-Reibekuchen ihrer Mutter: aus Kartoffelschalen und auf der heißen Fläche eines Bügeleisens gebacken. Allerletzte Sorgen lösten sich schließlich auf, als beide Brüder heimkehrten – einer davon aus der Gefangenschaft in Algerien mit einem Rucksack voller Datteln.
„Ich habe den Krieg erlebt, da wird man nicht so schnell hysterisch“, sagt Eva Loeken 75 Jahre danach zur Corona-Krise: Nach dem Krieg habe man ja überhaupt nicht gewusst, wie es weitergehen würde. Der aktuelle Situation kann Eva Loeken dennoch nichts abgewinnen – dass sie zu Ostern ihre Kinder und Enkel nicht sehen konnte, „das war nicht schön“…