02.06.2025, 16.10 Uhr   |   Marion Heidenreich   |   Artikel drucken   |   Instapaper   |   Kommentare

„Offener Abend“: Gedenken & Mahnen 80 Jahre nach Kriegsende

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Annette Leuschen (re.), die Gastgeberin der Reihe „Offene Abende“, hatte anlässlich des 80. Jahrestages des 2. Weltkrieges unter anderem die Historikerin Tatjana Tönsmeyer (2.v.li.) und den SPD-Bundestgsabgeordneten Helge Lindh sowie Laura Eckl von der Bergischen Universität zu Gast. | Foto: Marion Heidenreich

Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Hauptquartier der Alliierten in Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und besiegelte so das Ende des Zweiten Weltkrieges auf europäischem Boden. Als vier Jahre später, am 8. Mai 1949, das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat verabschiedet werden sollte, bezeichnete Theodor Heuss (FDP) das gewählte Datum als die „tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte“, weil „wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“. Im kollektiven Gedächtnis stand es lange für Niederlage, Vertreibung, Zusammenbruch, deutsche Teilung und Besatzung. Anlässlich des 40. Jahrestages bezeichnete der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“.

Tag der Befreiung oder Niederlage?

Beim „Offenen Abend“ in der Johanneskirche an der Altenberger Straße diskutierten Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer und SPD-MdB Helge Lindh um den heutigen Umgang mit dem Gedenken an zwölf Jahre Nazi-Willkür und -Terror, Zerstörung und rund 36,5 Millionen Tote – an ein Europa, das in Schutt und Asche lag. Das deutsche Erinnern an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges war lange geprägt auf das „eigene“ Leid. Erst ab 1990 finden alle jüdischen und nicht-jüdischen Opfer des NS-Regimes Beachtung. Tatjana Tönsmeyer hat in ihrem Buch „Unter deutscher Besatzung: Europa 1939-45“ den Fokus auf all die Menschen gelegt, die während der deutschen Besatzungszeit alltäglich litten.

Unter deutscher Besatzung

Im ersten Teil des Offenen Abends in der Johanneskirche las die Historikerin auch aus „Ego-Dokumenten“ wie Tagebüchern, Memoiren und Briefen mit Alltagserfahrungen. Da ist der französische Junge, der nach dem Ausflug mit einem in der Familie einquartierten, deutschen Offizier der Mutter sagt: „Siehst du, war gar nicht so schlimm. Er hat mich nicht umgebracht.“ Oder die Schilderungen der jüdischen Sorbonne-Studentin Hélène Berr, die in ihrem „Pariser Tagebuch“ die Ängste, die Demütigungen, aber auch die Scham und das System der Verfolgung und Ausgrenzung bis hin zur Deportation festhielt. Auch nicht direkt Betroffene hätten „vielfach von Ausschreitungen gehört, wussten von brutalen Strafmaßnahmen und fürchteten für sich und ihre Lieben, Opfer von Gewalt zu werden“, berichtete die Historikerin: „Die deutsche Gewalt- und Besatzungsherrschaft drückte somit jüdischen wie nichtjüdischen Angehörigen besetzter Gesellschaften ihren Stempel auf.” Die Folgen: soziale Spannungen, weitere Ausgrenzung, Denunziation und Bereicherung.

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Das Erbe der Zeitzeugen

Immer wieder wurden und werden an Gedenktagen Stimmen laut, die einen „Schlussstrich“ ziehen wollen. Umso wichtiger sei die Aufgabe zur Schaffung einer Erinnerungskultur ohne Leerstellen: „Wir brauchen mehr Wissen. Wir müssen weg von einer Opferkonkurrenz und Nationalisierung“, betonten Tatjana Tönsmeyer und Helge Lindh auch die Notwendigkeit eines Dokumentationszentrums zur deutschen Besatzungsgeschichte. Dazu gehöre auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte.

Mahner für Menschlichkeit

Tönsmeyers präzise Schilderungen der Ereignisse und Erfahrungen sind in der heutigen Zeit mit neuaufblühendem Antisemitismus, Rassismus und russischem Angriffskrieg sowie Nahost-Konflikt wichtiger denn je. Zumal mit Margot Friedländer am 9. Mai eine weitere mahnende, aber auch versöhnende Zeitzeugen-Stimme verstummt ist: „Das, was damals geschehen ist, darf nie wieder geschehen“, appellierte die Zeitzeugin immer wieder: „Ihr habt es in der Hand. Seid Menschen…!“ 

Infos zum Buch & nächster Termin

Das Buch „Unter deutscher Besatzung: Europa 1939-45“ von Tatjana Tönsmeyer ist unter der ISBN 978-3406817359 im Buchhandel erhältlich. Am heutigen Montag, 2. Juni, empfängt Gastgeberin Annette Leuschen in Kooperation mit dem katholischen Bildungswerk Prof. Dr. Fabian Kessl zum nächsten „Offenen Abend“. Thema wird ab 19.30 Uhr an der Altenberger Straße 25 der „Missbrauch in der Kirche“ sein. Der Eintritt ist wie immer frei.