01.10.2014, 15.50 Uhr   |   Redaktion   |   Artikel drucken   |   Instapaper   |   Kommentare

„Verrücktes Blut“ im TiC: Ein richtig starkes Stück Theater

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„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – im Schillerschen Sinne sind sie „ganz Mensch“, die Darsteller von „Verrücktes Blut im TiC-Theater. -Foto: Martin Mazur

Selten hat man die Zuschauer des TiC-Theaters derart von einem „Stoff“, der auf die Dörper Bühne kam, beeindruckt gesehen: Gefesselt verfolgte das Publikum die Premiere von „Verrücktes Blut“. In der Pause und nach dem Schlussvorhang wurde lebhaft über das Stück gesprochen, am Ende spendeten die ebenso aufgewühlten wie von der Leistung der TiC-Darsteller begeisterten Premierenbesucher lang anhaltenden Applaus, und sicherlich auch noch daheim war das TiC-Stück Thema – der Auftakt zu der neuen TiC-Reihe „Starke Stücke“ war ebendas: ein starkes Stück.

Raik Knorscheidt, seit Jahren immer wieder als Regisseur an der Borner Straße zu Gast, inszeniert das junge Stück von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, welches 2011 von der Zeitschrift „Theater“ zum „Deutschsprachigen Stück des Jahres“ gewählt wurde und in den letzten Jahren einen Siegeszug quer durch die Republik erlebte. Im Mittelpunkt von „Verrücktes Blut“ steht eine Schulklasse, die sich ganz überwiegend aus muslimischen Jugendlichen zusammensetzt. So unterschiedlich ihre Wurzeln sind, den einzigen deutschstämmigen Schüler und seine Kameraden – ob nun mit arabischem, türkischem oder kurdischem Migrationshintergrund – vereint: Sie sind respektlos, brutal und sexistisch; sie pöbeln, hängen ständig und laut am Handy, machen keine Hausaufgaben, aber dafür Partys, „Schlampen“ oder „kleine Geschäfte“ klar – um es „korrekt“ auszudrücken, diese Klasse ist schwierig, sie hat besonderen „Förderbedarf“, ihre Schüler sind benachteiligt; um unkorrekt zu sein: diese Klasse ist ein Sammelsurium aus Proleten aus schwierigen Verhältnissen mit schwierigen Perspektiven, vielleicht abgesehen von einer Hartz-IV-Karriere…

Verzweiflung im Klassenzimmer: Waffengewalt gegen Schüler-Mob

Mit dieser zügellosen Horde – ausgerechnet – will die junge Lehrerin Sonia Kehlich (Mirca Szigat) Schillers „Die Räuber“ einstudieren. Ihre Worte prallen vor eine Wand aus Desinteresse, hinter ihrem Rücken tanzt der „Mob“. Es hat zunächst mitunter autistische Züge, wie Kehlich ihren Unterricht durchzieht, dann aber eskaliert die Schulstunde: „Das ist sexuelle Belästigung – hört auf“, schreit sie ihre Schüler an, „willst du sterben“, lautet die Antwort. Als dann im Tumult eine Pistole aus einer Schüler-Tasche purzelt, greift Sonia Kehlich zu: Mit Waffengewalt bringt sie die Klasse unter Kontrolle: „Es ist jetzt 8.45 Uhr – ich glaube, wir können jetzt mit dem Unterricht beginnen…“, gibt sie zu Protokoll.

In der weiteren Folge der „Stunde“ sind die Rollen nun vertauscht: Die Schüler sind jetzt die Geiseln, die zuvor gegängelte Lehrerin hält nun die Pistole und damit das Heft des Handelns in der Hand. Mit Waffengewalt macht sie sich daran, den Schülern Schillers Räuber-Intentionen „einzutrichtern“, ihnen ihre „Kanak-Sprak“, ihr „isch“ oder „disch“, auszutreiben, oder auch Schülerin Mariam von „den Zwängen des Islam“, sprich ihrem Kopftuch, „zu befreien“. Das Problem dabei: Mariam fühlt sich garnicht unterdrückt – da muss Sonia Kehlich (noch mehr) Druck ausüben, die (Schüler-)Terroristen sind nun die Terrorisierten…

Aufwühlendes Stück mit Finale zum Nachdenken

Die Diskussionen um die Integration von Migranten, aber auch um eine Spaltung der Gesellschaft, die Entstehung eines Prekariats und von Hartz IV-Karrieren oder auch um eine Verdummung der Jugend sind spätestens seit den Thesen von Thilo Sarrazin oder auch des Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky heiß debattiert. „Verrücktes Blut“ packt das Thema an und zwar frontal, ohne Angst vor der „Moralkeule“, ohne auf „political correctness“ zu achten. Es bedient auch so manchen Klischees, allerdings nur vordergründig. Denn indem sich sicherlich so mancher Zuschauer in seiner Sicht „bedient“ glaubt, tappt er Nurkan Erpulat und Jens Hillje in die Falle – das (überraschende) Ende von „Verrücktes Blut“ entließ die Premierenbesucher jedenfalls nicht nur hoch emotionalisiert, sondern überdies auch nachdenklich.

So sehr am Premierenabend im TiC diskutiert wurde, so sehr war unstrittig: „Verrücktes Blut“ ist ein (ge-)wichtiges Stück – großartig vom TiC, es auf seine Bühne zu bringen, großartig wie Raik Knorscheidt es umgesetzt hat. Seine Inszenierung, durch abrupte Schnitte in Form von lieblichen altdeutschen Volksliedern („Wenn ich ein Vöglein wär…“) im flackernden Licht von kalten Neonröhren immer wieder hart unterbrochen, wühlt auf; das Bühnenbild von Iljas Enkaschew, ein schmucklos-trister Raum, der an einen Luftschutzkeller erinnert, unterstreicht die Perspektivlosigkeit der „Kids“ der grauen Vorstadt-Ghettos.

Regie, Bühnenbild und Darsteller – ein „starkes TiC-Stück“

Aus dem TiC-Ensemble von „Verrücktes Blut“ einen Darsteller herauszuheben, verbietet sich: Ob die voller Frust und Verzweiflung um ihren „Bildungsauftrag“ kämpfende Mirca Szigat als Lehrerin Kehlich, ob Lara Sienczak und Nadine Thiele als die Muslimas Mariam und Latifa, ob Benedict Schäffer als Musa, Alexander Bangen als Hakim, Björn Tappert als Ferit, Robert Flanze als Hasan und nicht zuletzt Lars Grube als Bastian – sie wissen das vor Emotionen nur so strotzende Stück vollauf zu schultern, sie liefern „durch die Schulbank“ eine begeisternde Leistung ab. Ohne Ausnahme: ein starkes Stück, eben: ein starkes TiC-Stück!

Einen satten Extra-Applaus hat sich die TiC-Klasse dafür verdient, wie sie zwischen „Kanak-Sprak“ und Schillers Sprache schlafwandlerisch hin- und herspringt – absolut authentisch oder „voll krass“, „im Block-Jargon“. „Verrücktes Blut“ sei den CW-Lesern hiermit wärmstens ans Herz gelegt – Karten gibt’s unter Telefon 0202-47 22 11 oder online unter www.tic-theater.de.