19.02.2020, 18.02 Uhr | Meinhard Koke | Artikel drucken | Instapaper | Kommentare
Von der Kunst bis hin zu „Kloppo“: Tony Cragg im „Portrait“
Rund 200 Besucher wollten den weltbekannten Bildhauer in der Reihe „Portrait“ in der Evangelischen Gemeinde Küllenhahn einmal hautnah erleben.
Er wird als einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart gehandelt: Mit dem Bildhauer Tony Cragg konnten Dr. Martin Fleuß und Dr. Martin Probach einen Weltstar der Kunst als Talkgast in ihrer Reihe „Portrait“ begrüßen. Und einen Magneten, wie sich schon auf dem Weg in die Nesselbergstraße zeigte: Viele Autos und Fußgänger steuerten das Gemeindehaus an, Stuhl um Stuhl musste im Kirchsaal der Evangelischen Gemeinde Küllenhahn rangestellt werden – rund 200 Besucher wollten den Cragg-Abend erleben.
„Ja, ist denn schon Weihnachten?“, freute sich Martin Fleuß über das wohl so auch nicht erwartete große Interesse, mit dem auf Küllenhahn sonst nur der Basar oder eben die Heiligabend-Gottesdienste mithalten können. Zugleich zeigte sich Fleuß stolz und dankbar, dass der große Künstler der Einladung in die kleinste Gemeinde der Stadt gefolgt sei. In der Tat eine Ehre: Der Ehrenbürger Wuppertals, der ebenso das Bundesverdienstkreuz erhielt wie er von der Queen zum Ritter geschlagen wurde, ist vielfach geehrt.
Aus dem stinkenden Labor an die Kunsthochschule
Zum Küllenhahn kam er aber nicht mit Zwirbelbart á la Dali, extravagantem Hut Marke Beuys oder Gehstock wie „Malerfürst“ Lüpertz – völlig unprätentiös präsentierte sich Tony Cragg in Strickjacke, sehr sympathisch! Im Verlaufe des Abends bewies der Kunst-Star keinerlei Allüren, seine Unauffälligkeit war vielmehr schon fast auffällig. Damit passt der Weltbürger zu seiner recht unprätentiösen Wahl-Heimat Wuppertal – ebenfalls sehr sympathisch!
„Frei“ auserwählt hat der aus Liverpool stammende Ritter Wuppertal indes nicht: Der Liebe zu seiner ersten Ehefrau wegen verschlug es Tony Cragg 1977 in die bergische Metropole – „wir sind ihrer ersten Frau sehr dankbar“, sagte Martin Fleuß, und die Gäste im Gemeindehaus applaudierten kräftig. Ebenso hatte Cragg auch seine Hinwendung zur Kunst nicht geplant: Zunächst habe er nämlich in einem übelriechenden Labor gearbeitet – umgeben von lauter alten Männern, berichtete der 70-Jährige. Aus Langeweile habe er zu Zeichnen begonnen („Irgendwann war das wichtiger als Experimente“).
Der Liebe wegen von Frankreich nach Wuppertal
Eine Freundin befand schließlich: „Das ist gar nicht so schlecht, bewirb dich!“ Cragg tat es und wurde genommen, studierte dann zunächst in Gloucestershire, bevor er in London sein Studium fortsetzte. 1976 nahm er einen Lehrauftrag in Metz an, bevor die Liebe nach Wuppertal rief. Welche Städte hätten ihn wohl am meisten geprägt, wollte Martin Probach wissen. „Das ist eine schwierige Frage“, antwortete Tony Cragg. Die wundervolle Landschaft in Gloucestershire, die tollen jungen Lehrer in London oder auch die 15-Gänge-Essen bis in die Nacht in Metz – auf alle Stationen schaute Cragg gerne zurück: „Ich habe ein wunderschönes Leben gehabt.“
Nach seiner Kunst-Definition gefragt, anwortete Cragg: „Für mich ist das sehr simpel.“ Ein Künstler sei ein ,Artist‘, Kunst sei die Art und Weise, wie etwas geschaffen werde. Er kümmere sich aber nicht um die ,Art‘, ließ Cragg wissen. Dass er von sich sage, „ein Materialist“ zu sein, hinterfragte Martin Fleuß: „Ich finde das Material etwas Großartiges, Unfassbares ist“, erklärte der Bildhauer „seinen Materialismus“. „Das größte“ Material ist für Cragg das Gehirn, das die erstaunlichsten Sachen vollbringe.
Die Bildhauerei bezeichnete Cragg als Studium der Materialien: Der eine Künstler beschäftige sich mit Fett, der andere mit Holz oder Metall: „Man weiß direkt, von wem das ist.“ Cragg derweil „bespielt“ die unterschiedlichsten Materialien, hat sogar Kirchenfenster gestaltet. Die Form sei das Wichtigste, im Atelier am Eichholz zu stehen und mit Materialien zu experimentieren, das bezeichnete der Künstler als seine Hauptaufgabe – reisen, Hotels, Flughäfen, alles langweilig. Ob er ein Lieblingskunstwerk habe, lautete eine Frage aus der Zuhörerschaft, die Cragg ebenfalls löchern durfte: Nein, ließ Cragg wissen. Egal was, wenn ihm etwas gelungen sei, „stehe ich davor und staune, dass ich das gemacht habe“. Zudem ließ Cragg wissen, dass er selbst ganz selten ins Museum geht – okay, er hat ja mit dem Skulpturenpark seit 2008 auch ein eigenes.
Zum Frühstück nach London und Bewunderung für „Kloppo“
Mindestens einmal im Monat fliegt Cragg an die Themse, um dort mit Freunden zu frühstücken. Auch wenn er weltweit unterwegs ist, auch wenn er seit über 40 Jahren in Wuppertal zu Hause ist, seine Heimat bleibt Liverpool. Was er im Tal nicht vermisse, das sei das Wetter, schmunzelte Tony Cragg, aber wohl den englischen Humor – der deutsche sei nicht so witzig. Auch der Reds-Fan Cragg bewundert Fußballlehrer Jürgen Klopp: Der Trainer und der Liverpooler FC, das sei eine wunderbare Verbindung – „ich denke manchmal: Ist das wirklich wahr?“ Identität und Stolz dürfe man haben, „übermäßigem Nationalismus, der trennt“ erteilte Tony Cragg aber eine Absage – da gab es Applaus am Küllenhahn.
Natürlich kam auch der Brexit zur Sprache. Dieser sei „sehr traurig“, befand der Künstler, England habe ja von der EU „wunderbar profitiert“: „Wie können die das vergessen“, fragte sich Cragg. Ob er denn nun die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebe, wollte Martin Probach wissen: „Die habe ich schon“, antwortete Cragg: Er wolle nicht „in der langen Schlange der Nicht-EU-Bürger stehen“. Vielleicht auch, weil er sich mit bald 71 Jahren dem Ende seines „materiellen Rahmens“ nähere und keine Zeit mehr vertun will: „Ich genieße die Zeit, mehr als ein 20-Jähriger.“
Kaum zu genießen schien Cragg den kräftigen Schlussapplaus nach 90 „Portrait“-Minuten: Cragg winkte ab und drehte sich auch mal (scheinbar verlegen) um – sehr sympathisch. Schön, dass Wuppertal Tony Cragg hat – dank Jürgen Klopp können die Liverpooler das vielleicht verschmerzen…?!